Die Geschichte von den ungleichen Hamstern
Aus dem Buch von Andrea Klasberg: "Und was, wenn alles ganz anders ist?"
Vor langer Zeit kamen in einem großen Käfig fünf kleine Hamster zur Welt. Blind – wie jeder Hamster zunächst ist – verließen sie sich voll und ganz auf ihre Eltern, die sich liebevoll um sie kümmerten. Als ihre Augen zu sehen begannen, blickten sie sich in ihrer Umgebung um. Alles, was sie sahen und auf ihren Streifzügen durch den Käfig entdeckten, bildete fortan ihre Welt. Ein weicher Boden, auf dem man scharren, sich wälzen, spielen und herumlaufen konnten.
Hinten in der Ecke gab es zwei Schälchen – eines gefüllt mit Wasser, das andere mit Futter. Ein paar Verwandte, die Eltern, Onkel, Tanten. Ganz vorne war ihr Häuschen, gefüllt mit weichem kuschligem Material … dorthin gingen sie tagsüber, um zu schlafen. So wie alle Hamster es tun und schon alle Vorfahren es je getan hatten. Während sie schliefen, träumten sie von Dingen, die sie nie zuvor gesehen hatten. Von Orten und Landschaften, wunderschön, bunt und vielfältig. „Alles nur Träume“, sagten sie sich nach dem Erwachen, zu schön um wahr zu sein. Denn das, was real war, konnten sie durch die Gitterstäbe ihres Käfigs sehen.
Um ihren Käfig herum gab es einen sichtbaren Raum, das Zimmer eines Mädchens. Dieses versorgte die Hamster täglich mit Futter und Wasser, streichelte sie, sprach zu ihnen, in einer für sie unverständlichen Sprache. An den Mauern des Zimmers endete ihre Welt … mehr war nicht zu sehen und konnte demnach auch nicht existieren. Natürlich gab es in ihrem Zuhause auch ein Hamsterrad – nachts, wenn sie wach waren, liefen sie abwechselnd darin herum. Sie waren zufrieden, so war es nun einmal … das Hamsterleben.
Nur einer von ihnen – es war der Allerkleinste – wollte keine rechte Freude an diesem Dasein haben. Wieder und wieder sagte er zu seinen Familienmitgliedern: „Das kann doch wohl nicht alles sein – irgendwo muss es doch all diese wunderschönen Orte geben, von denen ich nachts träume – ich fühle, dass es sie gibt – es ist als trennten mich nur diese Gitterstäbe von ihnen.“ Seine Familie reagierte mit Unverständnis. „Du bist ein Spinner, ein komischer Sonderling – hör doch auf mit diesen Phantasien, die zu nichts führen – sei einfach ein ganz normaler Hamster. Tu was von dir erwartet wird, schlafe tagsüber, renne nachts im Hamsterrad herum, esse, trinke – und dann beginne das Ganze wieder von vorn.“
Der kleine Hamster begann an sich zu zweifeln. Er fühlte sich wie ein Versager – als tauge er nicht für ein ganz normales Hamsterleben. Doch ganz tief in ihm, da meldete sich eine Stimme. Sie wurde lauter und klarer und war nicht zu überhören. „Vertraue mir, folge mir und gehe deinen eigenen Weg.“ Ein Gefühl von Erleichterung und völliger Klarheit stieg aus seiner Tiefe hervor und brachte ihn auf eine Idee.
An diesem Abend, als der Rest der Familie aufstand, um im Hamsterrad zu laufen, weigerte er sich, es ihnen gleichzutun. „Ich lege mich jetzt hin und schlafe“, erklärte er der Familie. „Das kannst du doch nicht tun … jetzt flippt er völlig aus … dieser Sonderling … irgendetwas stimmt wirklich ganz und gar nicht mit ihm“, so lauteten die Kommentare seiner Geschwister. „Lasst ihn doch in Ruhe, er weiß es halt nicht besser“, sagte liebevoll die Mutter und wunderte sich, warum ausgerechnet sie ein solch sonderbares Hamsterkind zur Welt gebracht hatte.
Morgens dann, als die anderen schlafen gingen, nahm der kleine Hamster all seinen Mut zusammen und folgte seiner inneren Stimme. „Mach dich ganz flach und lang, schlüpfe durch die Stäbe, laufe durch den Raum und warte bis die Türe geöffnet wird“, so sprach sie zu ihm. Ohne zu zögern, tat er all das. Und siehe da … es war nicht einmal schwer, durch die Stäbe zu schlüpfen. Warum nur hatte das nie einer seiner Artgenossen je versucht? Plötzlich wurde ihm klar, dass er weder sonderbar noch komisch war – augenscheinlich hatte er etwas in sich, das die anderen wohl verloren haben mussten. Er trug diese Stimme in sich, der er vertrauen konnte. Sie gab ihm Mut und Kraft, Dinge zu tun, die außerhalb der „Normalität“ lagen.
Mit einem Mal fühlte er sich groß, einzigartig und stark. Er erkannte, dass er etwas ganz Besonderes war und dafür liebte er sich, egal, was die anderen sagten oder dachten. Als das Mädchen die Tür öffnete, um das Futter zu bringen, nutzte der kleine Hamster die Gelegenheit.
Er lief hinaus ins Unbekannte. Neugierig und voller Freude trugen ihn seine flinken Beinchen - er war auf dem richtigen Weg. Nachdem er einige Räume durchquert hatte, kam er in einen Garten. Was er zu sehen bekam, grenzte an ein Wunder. Eine saftige grüne Wiese, sanft und weich umschmiegte sie ihn, kitzelte ihn am Bauch, sodass er loslachen musste. Bunte Blumen, in wunderschönen Formen und Farben. Tiere, so vielfältig – allesamt einzigartig und wundervoll. Und dort hoch über ihm ein nicht enden wollender blauer Himmel, die goldene Sonne, deren Wärme angenehm auf ihn herab schien. Das waren sie … die Bilder aus seinen Träumen … sie waren wohl aus seinem tiefen Wissen um das „Große Ganze“ zu ihm vorgedrungen. Wundervoll, bunt und grenzenlos … er spürte, dass er mit all dem verbunden war … ein Teil davon.
Unbedingt musste er seiner Familie erzählen, was er hier gesehen hatte. Aufgeregt machte er sich auf den Heimweg. Als er wieder im Käfig war, lief er sofort zu ihnen, um zu berichten. Sie hatten nicht einmal bemerkt, dass er weg gewesen war – sie hatten ja geschlafen. „Erzähl nicht so einen Unsinn, du hast nur geträumt, mach deine Augen auf und schaue! Das hier ist die Realität … das ist das Leben und sonst nichts. Du und deine Spinnerei.“
Der kleine Hamster wurde zuerst traurig, dann wütend – was auch immer er versuchte, keiner glaubte ihm … schlimmer noch … sie bedauerten ihn. Sie lebten ihr Leben unverändert weiter … schlafen, essen, im Hamsterrad rennen! Der kleine Hamster jedoch, folgte weiterhin seiner inneren Stimme. Er erkundete diese neue Welt und lebte sein Leben nach seinen ganz eigenen Vorstellungen. Das ließ er sich nicht mehr nehmen – ungeachtet dessen, was die anderen darüber dachten. Er war voller Glück und Zufriedenheit, mutig, stolz und ohne Angst. Er fühlte sich geschützt und sicher, da er diesem unendlichen „Großen Ganzen“ bedingungslos vertraute.
Eines Tages, als er von einem seiner Ausflüge zurückkam, lag einer seiner Verwandten tot im Hamsterrad – die anderen saßen weinend um ihn herum. Sie trauerten, da nun sein schönes Hamsterleben vorbei war. Der kleine Hamster jedoch, begann zu singen und zu tanzen. Er wusste, dass sein Verwandter nun frei war. Frei von einem Leben in Begrenzung und Mangel. Er war nun – da war er sich ganz sicher – irgendwo dort draußen, in der unendlichen Weite. Nun endlich wäre er in der Lage, das wahre Sein zu begreifen … es zu erleben.
Der kleine Hamster blickte nach oben, durch die Stäbe des Käfigs, durch den Raum hindurch, der ihn umgab … hinauf bis in die unendliche Weite des blauen Himmels. Plötzlich vernahm er in sich die Stimme seines verstorbenen Verwandten. „Ich habe mich getäuscht. Du bist kein Sonderling … du bist ein Wissender – ich war es, der vergessen hatte, was wir sind und was uns ausmacht. In meinem nächsten Leben werde ich als Vogel auf die Welt kommen. Falls ich all das wieder vergessen sollte, so habe ich dann wenigstens einen weiteren Horizont und einen anderen Blick auf das, was ist.“
Auf dem Gesicht des kleinen Hamsters lag ein glücklicher Ausdruck. Voller Freude über das, was er da soeben gehört hatte, schloss er seine Augen und sah, dass er seinem verstorbenen Onkel irgendwann wieder begegnen würde … irgendwo dort draußen … in der unendlichen Weite des „Großen Ganzen“.